Rose Ausländer Gesellschaft

Rose Ausländer Gesellschaft
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Zurzeit führen wir keine Reisen nach Czernowitz durch. Sobald der Krieg von Russland gegen die Ukraine beendet ist, werden wir das Reiseprogramm wieder starten.



          


Vi ahin zol ikh geyn? Herbert Rubinstein im Interview

Wenn es einen spiritus rector der Städtepartnerschaft zwischen Düsseldorf und Czernowitz gäbe, er
hieße Herbert Rubinstein. Der gebürtige Czernowitzer überlebte den Völkermord im Zweiten
Weltkrieg in der damals rumänischen, heute ukrainischen Nord-Bukowina, ließ sich 1956 in
Düsseldorf nieder, und engagiert sich seitdem – fest auf dem Boden der jüdischen Überlieferung
stehend – für den Dialog über religiöse und kulturelle Grenzen hinweg. Aus Anlass seiner im
vergangenen Jahr erschienenen Hörbuch-Biographie 'Meine vier Leben' konnten wir am 13. Juni
2023 ein Interview mit Herbert Rubinstein führen. Sein Lebensmotto 'Das Gute wird siegen – wenn
wir etwas dafür tun' spiegelt einen tätigen Humanismus wider, der uns aus dem Werk Rose
Ausländers – in lyrischer Gestalt – nicht unvertraut ist.
Rose-Ausländer-Gesellschaft (RAG): Sie, lieber Herr Rubinstein, wurden 1936 in Czernowitz geboren
und sind Autor des im Oktober 2022 erschienenen Hörbuchs 'Meine vier Leben'.
Herbert Rubinstein: Autor bin ich nicht, sondern ich bin, wenn Sie so möchten, der Protagonist. Der
Ideenverwirklicher ist Jan Rohlfing, Musiker, Komponist und ein vielseitiger, guter Freund.
RAG: Dieses Hörbuch ist eine Art Gemeinschaftswerk?
Herbert Rubinstein: Richtig. Durch das, was Jan Rohlfing gemacht hat, habe ich mich in meine
Vergangenheit wieder eingefunden. Es sind ja über 6 Stunden insgesamt an Gesprächen gewesen.
Das heißt, eine Nachbearbeitung der Texte war wichtig.
RAG: Sie beschäftigen sich seit 2 Jahren mit diesem Hörbuch. Daran kann man, glaube ich, sehen,
dass es eine gewisse Zeit gebraucht hat, um das umzusetzen.
Herbert Rubinstein: Es ist so, dass im Anfang die Idee eines Hörbuches nicht an mich herangetragen
wurde. Vielleicht, dass der Name Herbert Rubinstein und die Verbindung Czernowitz - bevor
überhaupt der Krieg in der Ukraine losgegangen ist - mit ein Auslöser gewesen ist. Aber was
wahrscheinlich wichtig ist, war, dass der Herbert Rubinstein Jude ist, dass er bereit ist zu sprechen
als Zeitzeuge, dass er in Schulen geht und mit vielen jungen Menschen Kontakt hat. Und wenn man
das mit Musik unterlegen kann, ist die problematische Vergangenheit, die Gewalt, das alles, was ich
ja zu berichten habe, nicht so drückend. Und dann habe ich gesagt: 'Ich möchte ein musikalisches
Thema haben'. 'Meine vier Leben' bedeutet ja einen Weg. Im Jiddischen gibt es ein Lied, das heißt 'vi
ahin zol ikh geyn'. Das heißt in Deutsch 'Und wohin soll ich gehen?'. Wenn man überlebt hat, wo
führt der Weg hin? Ich habe mir gesagt, dieses Lied passt gut dazu. Dann haben wir den Kantor der
jüdischen Gemeinde Düsseldorf, den Herrn Aaron Malinsky, mit dem Projekt konfrontiert und ihm
erzählt, was wir machen und ob er bereit wäre, das auch zu singen.
RAG: Sie haben Jan Rohlfing als maßgeblichen Initiator beschrieben, sie sind so weit gegangen zu
sagen, sie sind gar nicht Autor, sie sind der Protagonist. Sie sprechen über Ihr Leben nicht als
jemand, der ein Atom im Universum ist, sondern sie lassen den Zuhörer daran Anteil nehmen, dass
Sie in einer Gemeinschaft sind.
Herbert Rubinstein: Die Gemeinschaft ist für mich ein Mittelpunkt im Leben. Isoliert sind wir als
jüdische Menschen sowieso geworden. Die Gemeinschaft ist für uns als jüdische Menschen faktisch
eine Insel. Und wenn wir jetzt das Hörbuch nehmen, dann habe ich mir gesagt, ich müsste aus dieser
Gemeinschaft ein bisschen hinaus. Die Gesellschaft insgesamt gesehen, außerhalb von dem
jüdischen Bereich, ist doch die überwiegende Mehrheit. Das heißt: Wieso weiten wir nicht unsere

Gemeinschaft auf die Interessierten aus, die dann unsere geistigen Freunde werden? Die mit uns
praktisch versuchen gegen das Böse zu kämpfen, wobei ich nicht sage, dass im Judentum alles gut
ist. Aber das Judentum hat für mein Gefühl das Gute als Kern im Mittelpunkt.
RAG: Wie man zu solchen Gedanken kommt, könnte sich der eine oder andere fragen, der nicht vier
Leben hatte, sondern im ersten Leben steht und das in der heutigen Zeit, im 21. Jahrhundert. Sie
blicken, lieber Herr Rubinstein, ja auch noch zurück, vielleicht nicht nur ins 20. Jahrhundert, sondern
ein bisschen noch ins 19. Jahrhundert?
Herbert Rubinstein: Richtig.
RAG: 1936 - im Winter, sagen Sie - , sind Sie geboren. Dann waren Sie 10 Jahre im ersten Leben
begriffen, in Czernowitz. War das die bewegteste Zeit?
Herbert Rubinstein: Die ersten 10 Jahre war Czernowitz natürlich der Mittelpunkt. Aber die
Fluchtbewegungen, die uns in unterschiedliche Städte haben kommen lassen, haben bewirkt, dass
Czernowitz für mich nicht ein Ort der Ruhe und des Entwickelns war, sondern sehr ambivalent.
RAG: Sie beschreiben, dass Sie sich an den Großvater mütterlicherseits erinnern, der Bierbrauer war.
Herbert Rubinstein: Ja.
RAG: Der schwere Pferde hatte vor seinem Bierwagen. Da gibt es ein Detail, dass Sie freitags abends
immer ein bisschen Bier zu trinken bekommen haben.
Herbert Rubinstein: Ja. Die schöne Erinnerung war, dass wir, obwohl wir nicht streng religiös waren,
dafür gesorgt haben, dass die Familie am Freitagabend zusammengekommen ist. Und dann wurde
natürlich gegessen. Und wenn es noch ruhige Zeiten waren, viel gelacht. Dann hat Opa Wolf, Leon
Wolf, seligen Angedenkens, immer so ein ganz kleines Fläschchen mit ein paar Schluck Bier in seiner
Hintertasche gehabt. Und ich durfte dann immer ein bisschen dran nuckeln.
RAG: Im Hörbuch sagen Sie, dass Sie mit 12 bis 15 Personen im Wohnzimmer saßen und leckere
Dinge gegessen haben: Huhn, gefillte Fisch,
Herbert Rubinstein: Ja, und die Challot. Also die Mohn-Zöpfe und Sesam-Zöpfe. Freitagabend im
Judentum ist ja der Vorabend vom Schabbat. Es war nicht nur ein Zusammenkommen, dass man sich
sieht, wenn man die ganze Woche nicht die Möglichkeit gehabt hat. Es gab auch viele jüdische arme
Menschen. An diesem Abend war eine Mizwa, also ein Gebot, dass man ärmere Menschen, ob es
Nachbarn waren oder unter Umständen auch Familienmitglieder, gebeten hat, dass sie zu uns
stoßen und mit uns zusammen essen.
RAG: Und das Essen wurde gekocht von Ihrer Mutter?
Herbert Rubinstein: Überwiegend, zu Hause, da war es die Großmutter, solange sie noch konnte;
und dann auch natürlich meine Mutter.
RAG: Dann gibt es noch ein Detail: Dass sie auch heute Ihre Mutter vor sich sehen, wenn Sie die
Lieblingskipferl bekommen, die inzwischen Ihre Tochter für Sie macht?
Herbert Rubinstein: Richtig. Die Mutter ist Gott sei Dank schmerzfrei und in einem hohen Alter – sie
war fast 93 Jahre - in unserem Nelly Sachs Haus verstorben, wo auch Rose Ausländer verstorben
war. Mutter war bis zuletzt eine lebensbejahende Person - und immer mit ausgestreckten Händen
bereit Menschen zu helfen. Und sie war eine wunderbare Köchin. Ich hab Glück gehabt, dass ich

diese beste Mutter der Welt bekommen habe. Und die Kipferl unserer Tochter - sie wohnt ja in
Berlin und kommt öfters mal zu uns. Dann ist es ein Highlight, die genießen zu dürfen.
RAG: Nun haben Sie über Ihre Mutter gesprochen, über ihren Vater weniger, was damit zu tun
haben kann, dass er im Krieg geblieben ist.
Herbert Rubinstein: Ich habe meinen Vater kaum gekannt. Er war ein guter Mensch, ein
Rechtsanwalt, ein Intellektueller. Aber ich habe wenig Eindrücke. 1940, als die Russen gekommen
sind, war ich 4 Jahre alt - die Erinnerung ist weg. Es ist nur vorhanden, dass er uns zugewunken hat,
als er in die russische Armee eingezogen wurde - was für uns ein furchtbares Erlebnis war. Der Vater
war auf einmal nicht mehr da. Und die ganze Zeit dann, bis an sein Lebensende, habe ich ihn nicht
mehr gesehen und auch nicht mehr gehört.
RAG: Sie waren ein Einzelkind. Ich unterstelle ein Wunschkind
Herbert Rubinstein: Ja.
RAG: Es war ja so, dass Ihr Vater Arzt werden wollte und das in Wien hätte machen müssen, weil es
in Czernowitz zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ging.
Herbert Rubinstein: Sie hatten auch keine Fakultät in Czernowitz, keine medizinische Fakultät. Heute
ist sie ja vorhanden.
RAG: Ja, das war damals unter rumänischer Verwaltung. Die Rumänen hatten zu diesem Zeitpunkt
vieles rückgängig gemacht von dem, was vor dem Ersten Weltkrieg unter der kuk-Monarchie noch
möglich war.
Herbert Rubinstein: Richtig. Wenn wir zurückgehen nach 1918 ist ja praktisch jetzt die Bukowina
und Czernowitz rumänisch geworden. Man leiblicher Vater hat in Czernowitz studieren können, weil
er dort zur Schule gegangen ist. Er ist noch in der kuk-Monarchie geboren. 1914 kam der Erste
Weltkrieg, ging bis 1918. In der Zeit ist er in eine österreichisch-ungarische Schule gegangen, da war
Deutsch die Muttersprache. Natürlich haben dann die Rumänen diskriminiert - aber ob das ein
Grund gewesen ist, dass in Czernowitz keine medizinische Fakultät war, kann ich nicht bejahen oder
verneinen.
RAG: Jedenfalls hat es Ihr Vater in Wien nicht ausgehalten, weil er zu verliebt war in Ihre Mutter.
Herbert Rubinstein: So isses.
RAG: Und das war zu Ihrem Vorteil, weil Sie das Licht der Welt erblickt haben.
Herbert Rubinstein: So isses.
RAG: Aber wir haben es auch mit den Zeitläuften zu tun. Das Rad der Geschichte dreht sich weiter.
Nach den Rumänen – Sie haben es schon gesagt – kamen die Russen. Ihr Vater wurde von der
russischen Armee eingezogen, weil es im sogenannten Russenjahr - 1940 - aufgrund des Hitler-
Stalin-Paktes dazu kam, dass kurzzeitig die Bukowina und Czernowitz von Russen besetzt war.
Herbert Rubinstein: Ja.
RAG: Kurzzeitig, weil danach der Überfall der Wehrmacht auf Russland kam, was dazu führte, dass
erneut die Rumänen in Czernowitz die Macht übernahmen, dann aber mit wesentlich
drakonischeren Maßnahmen vorgingen.

Herbert Rubinstein: Richtig. Das Ghetto, das eingerichtet wurde in Czernowitz, war praktisch das Tor
für Transnistrien. Mengenmäßig vorgeschrieben, nach deutscher Präzision, mussten so und so viele
Menschen täglich die Züge besteigen, die Viehwaggons. Die sind nach Transnistrien abtransportiert
worden. Wobei bevor dieses Ganze erfolgte, auch in Czernowitz selber Erschießungen, Ermordungen
erfolgten. Der Pruth ist der Fluss, der durch Czernowitz fließt. Und dort haben sie ermordete
Menschen in den Fluss geschmissen. Da sind viele Menschen umgekommen.
RAG: (Pause) Da stockt einem die Sprache. In Transnistrien kam es unter Kontrolle der rumänischen
Streitkräfte zu einer sogenannten 'einseitigen Deportation'. Dem Regime von Antonescu in
Rumänien ging es darum, die Juden aus dem, was Rumänien als Land beanspruchte, zu entfernen. Es
ging nicht zwangsläufig oder industriell um die Vernichtung, so wie in den Gebieten, die den
deutschen Truppen unterstanden. Aber die Mittel, die angewandt wurden, führten in der Mehrzahl
der Fälle dazu, dass die Menschen verhungerten, erfroren, erschlagen wurden und nicht mehr
zurückkamen.
Herbert Rubinstein: So isses.
RAG: Es war ein chaotischer Völkermord, der in Transnistrien stattfand.
Herbert Rubinstein: Ja. Ich selber habe das Glück gehabt, dass ich nicht nach Transnistrien
gekommen bin, beziehungsweise meine Mutter, mein Großvater und ich. Aber mein Cousin hat
Transnistrien überlebt und erzählte eine ganze Menge von den Gräueltaten.
RAG: Die Gräuel sind lyrisch berühmt geworden in der Zeile 'Der Tod ist ein Meister aus
Deutschland'.
Herbert Rubinstein: Ja.
RAG: Das ist die Brücke zu Celan, der ja auch aus Czernowitz stammt. Seine Mutter und sein Vater
haben die Deportation nicht überlebt. Aber zurück zu Ihnen, Herr Rubinstein. Sie haben von den
Viehwaggons gesprochen, die in Czernowitz bereitstanden, für die Deportation in diese Gebiete.
Herbert Rubinstein: Ja.
RAG: Das Ghetto in Czernowitz wurde eingerichtet zu diesem Zweck. Es gab die sogenannten
Popovic-Ausweise und die Calotescu-Autorisationen, die man bekommen konnte mit
Verhandlungsgeschick oder mit besonderen Argumentationen: Diejenigen, die in Krankenhäusern
gearbeitet haben, die auf bestimmte Art und Weise unabkömmlich waren, konnten sich solche
Ausweise beschaffen. Das ist unter anderem der Familie von Rose Ausländer gelungen. Ihre Mutter,
Herr Rubinstein, Ihr Großvater und sie hatten polnische Ausweise.
Herbert Rubinstein: Meine Mutter hatte gesagt, wir hätten polnische Ausweise. Aber ich habe sie
nie gesehen. Von rumänischen Papieren wusste ich nichts. Als wir dann geflüchtet sind - wir sind ja
aus Czernowitz weg, weil die Mutter verhaftet wurde – müssen wir Papiere gehabt haben.
Wahrscheinlich sind wir mit diesen Papieren durchgekommen, denn wenn wir unsere eigenen
Namen gehabt hätten als Juden, hätte man uns sofort erschossen.
RAG: Es war ein Vernichtungskrieg, gegen Minderheiten und gegen die jüdische Minderheit zumal.
Die Einzelheiten und auch glücklichen Fügungen kann man dem Hörbuch entnehmen. Man kann es
aber nicht übergehen, meine ich, weil es so dramatisch und ungeheuerlich ist: Sie waren schon im
Viehwaggon, kamen wieder heraus
Herbert Rubinstein: Richtig.

RAG: Wir nähern uns dem, was Sie Ihr zweites Leben nennen. Eines können wir dabei nicht
überspringen - die Begegnung mit Ihrem Stiefvater.
Herbert Rubinstein: So isses. Aber Stiefvater nenne ich ihn nicht. Er ist mein zweiter Vater. Der Max
Rubin seligen Angedenkens hat mich als Zehnjähriger mit meiner Mutter und meinem Großvater in
die Freiheit aufgenommen. Er war am 27. Januar 1945 in Auschwitz befreit worden. Er war
Düsseldorfer, allerdings hatte er mit Deutschland abgeschlossen. Er ist in Holland, in Amsterdam,
verraten worden und dann über mehrere Lager nach Auschwitz gelangt und hat Auschwitz
wundersamerweise überlebt. Ich habe ihn gefragt, möchtest Du erzählen? Er war so davon
traumatisiert – es war sehr schwierig, etwas zu erfahren. Was ich erfahren habe, war, dass der Sport
eine wichtige Sache war.
RAG: Er war, glaube ich, Deutscher Meister auf Harley Davidson?
Herbert Rubinstein: Ja, er war 1920 als Zwanzigjähriger deutscher Meister auf Harley Davidson 1000
Kubik. Und er war mit den großen Autohändlern befreundet hier in Düsseldorf, das waren ganz
überwiegend nicht jüdische Menschen. Der gottselige Max Rubin hat eine breite Ebene mit
nichtjüdischen Leuten gehabt: Mit 13 Jahren werden wir jüdische Jungs Bar Mizwa, das heißt Söhne
der Gebote. Mit 13 Jahren ist man ein jüdischer Mann und darf an den Gebeten teilnehmen. Man
muss sich ungefähr anderthalb Jahre auf das Ganze vorbereiten. Dann gibt es eine Art Prüfung. Max
Rubin seligen Angedenkens ging also als Zwölfjähriger in die große Synagoge in der Kasernenstraße,
um zu üben.
RAG: In Düsseldorf?
Herbert Rubinstein: In Düsseldorf. Das Problem war, dass bei den Morgengebeten wochentags sehr
wenige Männer vorhanden waren. Also Max Rubin kam zu dem vereinbarten Termin und es waren
keine 10 Männer da. Aber Max hatte zu seinen Freunden gesagt, ich gehe dort und dort hin, und
dann haben die gesagt, interessiert uns mal. Also sind 3 oder 4 von ihnen mitgegangen. Und man
wartete, es wurden keine 10 Männer, aber es waren insgesamt mit diesen Jungs 11. So, und dann
hat der Rabbiner gesagt: Warum sollen wir Dich bestrafen dafür, dass die anderen nicht kommen?
Wir zählen Deine nichtjüdischen Freunde mit, und so konnte man das Gebet verrichten.
RAG: Verstehe.
Herbert Rubinstein: Das war der Rabbiner Max Eschelbacher seligen Angedenkens.
RAG: Und diese mitgezählten Freunde, gab es zu denen dann später Kontakt?
Herbert Rubinstein: Ja, als sie gehört haben, dass Max Rubin überlebt hatte, kamen sie nach
Amsterdam. Und das war, ja, es war für uns, Deutsche zu sehen, die den Krieg überlebt hatten, die
unter Umständen auch Schuld auf sich geladen hatten, erstmal ein Zwiespalt: Müssen wir uns mit
Deutschen unterhalten in Deutsch? Da war in meiner Brust ein großer Zwiespalt: Wirst du die
deutsche Sprache sprechen oder schaffst du die ab? Ich musste sie in der Schule lernen, denn wo ich
auf der weiterführenden Schule war, war Deutsch - auch in Holland damals - Pflichtsprache. Ich habe
meinen Eltern gesagt, ich spreche mit Euch holländisch. Die deutsche Sprache, das ist 'de moffen
taal'. Aber dann habe ich mir angefangen zu sagen, wieso eigentlich? Die Sprache deiner Großeltern
war Deutsch. Die Sprache deiner Eltern ist Deutsch, auch wenn das ja ein österreichisches Deutsch
ist. Die deutsche Kultur und die jüdische Kultur haben sich ergänzt. Und wenn wir überhaupt in
dieses ganze große Spektrum hineingehen, war die deutsche Sprache eine wunderbare Grundlage
für was weiß ich wieviel Gutes. Und dann habe ich mir gesagt, okay, dann ist die deutsche Sprache
genauso wichtig wie Französisch, Englisch, Spanisch, italienisch. Die deutsche Sprache ist für mich

erstmal eine Brücke, um mit vielen Menschen ins Gespräch zu kommen, wie mit den anderen
Sprachen. Und nach und nach habe ich empfunden, dass ich an sich, was die deutsche Sprache
betrifft - sie ist unlösbar mit mir verbunden.
RAG: Sie haben außer Holländisch auch Französisch und Rumänisch gesprochen, in der Familie?
Herbert Rubinstein: In der Familie haben wir nicht rumänisch gesprochen. Wir haben überwiegend
Deutsch gesprochen, das heißt, in Czernowitz habe ich rumänisch gelernt. Da habe ich auch Russisch
gelernt. Aber wir haben zu Hause Deutsch gesprochen. Und natürlich auch Jiddisch.
RAG: Das Jiddische kam von ihrer Mutter, ihrem Großvater oder ihrem Ziehvater?
Herbert Rubinstein: Von meinem Großvater mütterlicherseits. Und auch von der Seite von meinem
leiblichen Vater Max Rubinstein seligen Angedenkens. Die Eltern stammten aus Lodz.
RAG: Sie sagen zu Ihrer Amsterdamer Zeit, dass das Jüdische noch dazu kam, in Form einer
Tanzschule,
Herbert Rubinstein: Ja.
RAG: Und dann geben sie einen Hinweis auf die jüdische Kippa. Sie sagen, das sei eine Metapher:
Wir sind endlich als Menschen und brauchen etwas, um uns abzugrenzen gegen den Himmel, damit
wir nicht hochmütig werden gegenüber dem Schöpfer.
Herbert Rubinstein: So isses.
RAG: Das ist sehr einfach gesagt, und überzeugend.
Herbert Rubinstein: Wenn wir in die Geschichte hineingehen: Warum haben wir Kopfbedeckungen?
Weil wir aus einem Gebiet stammen, wo die Sonne schon vor Jahrhunderten schlimm war - man
musste sich gegen die Sonne schützen. Und dann wurden wir diskriminiert. Wir Juden wurden von
der Kirche gezwungen, Kopfbedeckungen zu haben, bestimmte Judenhüte. Irgendwann haben wir
gesagt, das, was sie uns aufgezwungen haben, wird zu unserem Symbol. Das zweite ist die
sogenannte Abgrenzung, damit man weiß: Über uns ist etwas, was wir fühlen können, aber nicht
sehen. Wir können es nur empfinden.
RAG: So dass man ein Stigma umgewandelt hat in einen positiven Wert?
Herbert Rubinstein: Richtig.
RAG: Das ist ja, wenn man so möchte, eine Art Überlebensstrategie.
Herbert Rubinstein: Wenn ich die Kippa heutzutage betrachte, ist sie in Israel noch wesentlich
ausgeweitet worden. Man hat gehäkelte Kippot, man hat welche aus Samt, aus Leder. Diese
Kopfbedeckung hat unter Umständen auch eine Aussagekraft, welche politische Richtung, welche
religiöse Richtung, welche soziale Richtung man hat. Also man kann mit diesem Teil auch viel
erfahren über eine Person.
RAG: Meine Denkrichtung ging an Ihre Anfänge: Sie haben im Hörbuch gesagt, dass Sie säkular
aufgewachsen seien. Sie haben vorhin präzisiert: Ihre Familie stand in einer festen konfessionellen
Tradition. Trotzdem möchte ich fragen, ob die jüdische Religion für Sie in Ihrer Amsterdamer Zeit
noch einmal eine andere Bedeutung bekommen hat?
Herbert Rubinstein: Sie hat die Bedeutung bekommen, zu einem bestimmten Teil der Menschheit zu
gehören. Ich bin mit 10 Jahren nach Amsterdam gekommen. Und ich habe dann mit dem religiösen

Judentum intensiver Kontakt bekommen. Das heißt, ich habe angefangen mich sowohl mit dem
Hebräischen wie mit den Übersetzungen, wie mit der Geschichte zu befassen. Judentum ist ja nicht
nur Religion, das ist ein way of life. Dann habe ich festgestellt: Dadurch habe ich mit vielen
Menschen Gesprächsthemen, Verbindungen. Und dann knüpfe ich an das, was man versucht hat zu
vernichten. Ich bin, wenn man so will, ein Träger der Geschichte, die vor ungefähr 5783 Jahren
angefangen hat. Als die sogenannten Überlebenden waren wir auch in Holland bei der Bevölkerung
etwas Besonderes. Nicht, dass wir irgendwie höhergestellt waren - aber wir waren akzeptiert, nicht
diskriminiert. Das hat das Elend, das in einem noch vorhanden war, minimiert. Und dann kam
natürlich das Judentum von den Menschen dazu, die überlebt hatten. Es knüpfte an das Schöne an,
das ich noch in Czernowitz in Erinnerung gehabt habe, aber auf eine andere Art und Weise.
RAG: Wenn Sie das so beschreiben, kann man kaum glauben, dass sie lediglich 10 Jahre in
Amsterdam zugebracht haben.
Herbert Rubinstein: Ja, aber so isses.
RAG: Und dann weitergezogen sind. Ausgerechnet nach Düsseldorf.
Herbert Rubinstein: Ausgerechnet nach Deutschland. Ich habe immer gesagt, Deutschland kommt
für mich nicht in Frage. Und trotzdem habe ich irgendwann entschieden: Ich versuche es, weil der
Max Rubin, seligen Angedenkens, oft gesagt hat 'nie wieder Deutschland' und trotzdem den Weg
gegangen ist. Und dann hab ich mir gesagt, wenn Max Rubin, der so ein schlimmes Schicksal gehabt
hat, mit Auschwitz und dem Ganzen, was er gesehen hat – was ich mitgemacht habe, war ein
Bruchteil von dem, was er mitgemacht hat. So dass ich mir gesagt habe, ich versuche es auch mal.
Der Weg nach Deutschland war, wenn man so will, mit angezogener Handbremse. Und dann hat die
deutsche Sprache, die meine Muttersprache ist, bleibt und sein wird, bis ich die Augen schließe, die
Brücke geschaffen zu den Jugendlichen, die mir in einer katholischen Jugend teilweise zu Freunden
geworden sind. Ich habe mir gesagt, kannst mit denen ja mal reden. Da hab ich festgestellt, der
Unterschied ist, dass sie keine Juden sind, und ich bin kein Christ. Und dann kamen die Gespräche:
'Fragt Ihr zu Hause?' – 'Ja, wir kriegen aber keine Antworten'. Bei den Juden haben wir auch keine
Antworten bekommen. Da hab ich mir gesagt, wenn wir da sind und miteinander sprechen, hören
wir das ein oder andere. Das heißt, es war eine Zeit der Entwicklung in vielen Bereichen.
RAG: Wir sind mitten in Ihrem dritten Leben, das Sie in Düsseldorf gestartet haben.
Herbert Rubinstein: Ja, 1956 im Dezember.
RAG: Und dann gab es ein Ereignis in den Rheinterrassen. Da gab es eine Chanukka. Ihre Mutter
sagte zu Ihnen, da drüben sei so ein nettes Mädchen. Und das gibt es heute noch.
Herbert Rubinstein: Gott sei Dank, sie ist nach wie vor die beste der Welt. Wir sind 59 Jahre
verheiratet und es kommt mir vor wie gestern.
RAG: Das ist doch eines der schönsten Komplimente, die man seinem Lebenspartner machen kann.
Herbert Rubinstein: Ich hab' in meinem Leben viel Glück gehabt. Wir sind, wenn man so will, ein
Körper. Und auch wenn wir diskutieren und unter Umständen unterschiedlicher Meinungen sind,
das bringt uns nicht auseinander. Im Gegenteil.
RAG: Und dann haben Sie in Düsseldorf eine eigene Familie gegründet?
Herbert Rubinstein: Ich würde sagen, in Köln. Standesamtlich haben wir in Düsseldorf geheiratet.
Aber die Chuppa, die jüdische Hochzeit, war in der Großen Synagoge in der Roonstraße in Köln. Der

Papa meiner lieben Frau war Kölner und hatte in Israel schon den zweiten oder dritten Herzinfarkt
bekommen und gesagt, 'ich vertrage das Klima nicht'. Darum haben die in Köln gelebt, meine Frau
und ihre Schwester. Und so haben wir dann auch in Köln geheiratet.
RAG: Ja, das ist Ihr drittes Leben. Sie selber haben gesprochen von Heimat. Und zwar sagen Sie:
Heimat ist dort, wo man vertrauensvoll und zuversichtlich leben kann.
Herbert Rubinstein: Ja.
RAG: Und in diesem Sinne ist mit Sicherheit Ihre Familie eine Heimat. Und Düsseldorf?
Herbert Rubinstein: Ich würde sagen, zuerst ist Düsseldorf die Heimat geworden und dadurch, dass
sie Heimat war, wurde die Familie dann, als wir die Kinder bekommen haben, auch Teil dieser
Heimat. Insgesamt gesehen sind auch die Familien, die jetzt durch die erwachsenen Kinder
entstanden sind, wenn ich es so bezeichnen darf - vielleicht krieg ich Prügel - deutsche Juden. Wir
sind Teil der Alltagsgesellschaft. Ob wir jetzt die Kinder nehmen, unsere Enkelkinder oder
Urenkelkinder - wir sind hier deutsche Europäer. Und vielleicht europäische Deutsche. Aber die
Identität 'Judentum' ist genauso Teil dieser Identität. Diese Wertegesellschaft, wenn wir die
zusammenbringen, könnte viel voneinander lernen. Dann wird nicht das Trennende vorherrschend
sein, sondern das Verbindende.
RAG: Was Sie gerade gesagt haben, ist ja schon die Perspektive hinaus aus dem eigenen Leben und
dem eigenen Umfeld, im Sinne einer Botschaft des Miteinanders, das im Zentrum stehen soll, damit
man Barrieren überwindet.
Herbert Rubinstein: Das Klein-Klein bringt nichts.
RAG: Das ist ja Ihre Aufgabe gewesen, die Sie hatten als Geschäftsführer des Landesverbandes der
jüdischen Gemeinden von Nordrhein.
Herbert Rubinstein: Das war auch meine Sichtweise. Dass ich zum Geschäftsführer berufen wurde,
hat mir die Möglichkeit eröffnet, als Amtsträger wesentlich mehr mit Institutionen in vielen Städten
und Gemeinden in Kontakt zu treten, wo es jüdische Friedhöfe gibt, wo es jüdische Gemeinschaften
oder Gemeinden vor dem Krieg gegeben hat, die es heute nicht mehr gibt. Und auch dieses ganze
Nordrhein-Westfalen hat es ja vor dem Krieg nicht gegeben. Wir hatten das Rheinland, wir hatten
Westfalen, wir hatten dieses Klein-Klein – ich bin froh, dass wir eine wesentliche Vergrößerung
gehabt haben, die mir auch die Möglichkeit geboten hat, mit meinen Kollegen und Kolleginnen in
den anderen beiden Verbänden auch mal über den Tellerrand hinauszuschauen. Durch die jüdischen
Landesverbände bin ich auch mit ganz anderen Leuten in Kontakt gekommen.
RAG: Auch jenseits jüdischer Verbände?
Herbert Rubinstein: Selbstverständlich, aber im Kontext mit der Stelle, die ich hatte. Die haben auf
einmal gesagt: 'Guck mal, da kommt der jüdische Mensch zu uns, das hat vorher keiner gemacht.
Warum macht der Rubinstein das?' Dann habe ich denen gesagt: 'Hört mal zu, wir arbeiten an der
gleichen Zukunft.' Und das haben die verstanden.
RAG: Sie bezeichnen diese Station, die Sie bekleidet haben in den 90er Jahren, als Ihr viertes Leben.
In Abgrenzung zum dritten Leben. Es ist aber der gleiche Ort. Oder ist es ein anderer geistiger Ort?
Herbert Rubinstein: Die Entwicklung war anders, der Ort ist der gleiche. Aber die Zeit war
fortgeschritten. Das heißt, wir haben 1989/90 aus der ehemaligen Sowjetunion eine wesentlich
vergrößerte Menge an Jüdischstämmigen und an jüdischen Menschen in Deutschland bekommen.

Wir waren insgesamt mit abnehmender Zahl so um die 30.000 im westdeutschen Teil von
Deutschland. Als 1989 die Mauer gefallen ist, kam dieser Bereich von Deutschland hinzu, aber mit
sehr wenigen jüdischen Menschen. Dann haben wir uns gesagt, wir müssen versuchen, ein jüdisches
Leben aufzubauen, damit wir eine Zukunft haben. Wir paar Mennekes, irgendwann sind wir weg.
Das hat uns dazu gebracht, dass wir Grundschulen, Kindergärten und Grundschulen - wir haben auch
jetzt das Gymnasium, das Albert Einstein-Gymnasium in Rath – gegründet haben, das heißt eine ganz
neue Entwicklung entstanden ist.
RAG: Was ich mich frage, ist, wie dieses vierte Leben weitergeht. Sie sind nicht mehr
Geschäftsführer des Landesverbandes.
Herbert Rubinstein: Richtig. Nicht mehr Mandatsträger. Bin ehrenamtlich in Institutionen, auch in
den Ausschüssen der Gemeinde, ob es Friedhof ist oder Kultus. Also ich mach noch mit. Das heißt,
wo ich aus dem sogenannten jüdischen Bereich ausgeschieden bin, zum Schluss Landesverband, war
ich trotzdem noch in der Gemeinde aktiv, aber hauptsächlich, würde ich sagen, in dem Gespräch
Christen/Juden in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Und das ist, wenn man so
will, die Fortsetzung des vierten Lebens mit neuen Ideen. Diese neuen Ideen sind an mich
herangetragen worden. Und heute: Da geht es um Czernowitz, um die Städtepartnerschaft, die wir
geschafft haben zwischen Czernowitz und Düsseldorf, gerade in dem Bereich, in der Zeit, wo schon
die Sowjetleute die Ukraine überfallen hatten. Oberbürgermeister Dr. Keller hat dann gesagt: 'So,
und jetzt werden wir die Städtepartnerschaft realisieren'. Die Vorgeschichte war, dass
Oberbürgermeister Thomas Geisel die Städtepartnerschaft im Auge gehabt hatte. Er ist mit uns nach
Czernowitz gefahren. Wir sind, wenn man so will, unterteilt in Juden, Christen, Muslime,
Freidenkende und und und. Aber wir sind Menschen, die in Europa leben, die dieses Europa als zu
Hause haben. Und wir sollten als Europäer versuchen, dass wir diese Familie wieder
zusammenbekommen, in Freiheit, in Demokratie, im Miteinander. Vielleicht die Vision eines
Verrückten. Aber ich sage mir, wir Menschen können, wenn wir wollen, das Gute und das Böse
beeinflussen. Wir müssen nur sehen, dass wir das Gute gewinnen lassen.
RAG: 'Das Gute wird gewinnen'. Herr Rubinstein, das ist das Lebensmotto, das Sie in Ihrem Hörbuch
ausgesprochen haben. Kann die Städtepartnerschaft mit Czernowitz die Krönung von diesem
Lebensmotto sein?
Herbert Rubinstein: Sie ist auf alle Fälle, ohne dass ich an sich jemals geglaubt habe, dass sowas
kommen würde, ein Meilenstein in einer Geschichte, die in etwa 85 Jahre zurückliegt, die uns
Menschen unheimlich viel Elend gebracht hat, die von deutschem Boden in einer Absurdität
entstanden ist, wo man sich fragt als normal Denkender, wie hat das überhaupt stattfinden können,
wie ist das möglich in einer zivilisierten Welt. Und vielleicht ist das gerade - die Städtepartnerschaft
zwischen Czernowitz und Düsseldorf - ein Zeichen, wie international das Rheinland ist. Wie Ideen
entstehen des Miteinanders über die Gewalt hinweg. Wenn sich Menschen mit dem Judentum ohne
Ressentiments befassen, werden sie feststellen, dass es einen Weg aufzeigt, den die Schöpfung der
Welt wollte. Aber es ist noch ein weiter Weg und ob das gelingen wird, weiß ich nicht. Mein Motto
'Das Gute wird gewinnen' ist an sich gekoppelt mit 'wir müssen auch nachhelfen, dass es gewinnen
wird'. Dafür brauchen wir weite Teile der Menschheit, der Erziehung, der Weitsicht vieler Politiker,
der religiösen Glaubensträger und und und.
RAG: Wenn Sie sagen, die Städtepartnerschaft mit Czernowitz ist ein Zeichen dafür, wie
international das Rheinland ist, dann ist das vielleicht auch der Tatsache zu verdanken, dass es eine
Vorarbeit gab. Sie haben den früheren Oberbürgermeister Geisel erwähnt, der für die
Städtepartnerschaft viel getan hat. Sie haben aber auch vorhin die jüdischen Schulen genannt. Es

gibt die Grundschule 'Yitzhak Rabin', und es gibt mittlerweile das Gymnasium 'Albert Einstein'. Sie
haben sich dafür eingesetzt, dass es beides geben konnte.
Herbert Rubinstein: Einfach aus der Überlegung: Wenn wir diese Schulen nicht machen,
verschwindet das Judentum in Deutschland. Das war mit eine der Grundlagen, warum ich mir gesagt
habe, es muss weitergehen, das soll nicht geschehen.
RAG: Nun sind die Auslandsaktivitäten dieser Schulen, ich meine zumindest des Albert-Einstein-
Gymnasiums, auf Czernowitz ausgerichtet gewesen, bevor es die Städtepartnerschaft gab. Also wenn
wir von Weitsicht sprechen, können wir an der jüdischen Gemeinde nicht vorbeigehen.
Herbert Rubinstein: Wir sind ein Mikrokosmos.
RAG: Ein erstaunlicher Mikrokosmos. Wenn Sie das Jüdische definieren als eine Art von
Gemeinschaft, in der man auf Zusammengehörigkeitsgefühl setzt, aber nicht in der Art und Weise,
dass andere ausgegrenzt werden, sondern dass man eine Heimat hat, dann ist das, glaube ich, ein
Gedanke, der entweder jeder Religion zugrunde liegt oder jeder Religion zugrunde liegen sollte. Das
führt mich wieder in die Zeit des 19. Jahrhunderts nach Czernowitz zurück, als man vielleicht eine Art
goldenes Zeitalter hatte: Es gab eine Vielzahl an kultureller Konkurrenz, auch konfessioneller. Eine
Vielzahl an Kirchen, eine Vielzahl an Bildungseinrichtungen, Theatern, einen Pluralismus von
Konfessionen, von Anschauungen, auch von Heimaten - im Plural. Könnten wir uns auch heute die
Frage stellen, wie modern der Ansatz ist, dass verschiedene Heimatbegriffe oder
Zugehörigkeitsweisen nebeneinander existieren?
Herbert Rubinstein: Wir können es umschreiben mit Toleranz. Und mit Menschenwürde.
RAG: Ein bisschen möchte ich auf Ihren Gedanken des Tätigwerdens hinaus. Ihr Motto war ja: 'Wir
können das Gute schaffen in der Welt, aber man muss ein bisschen nachhelfen'. Dieser
Tätigkeitsaspekt, wie kriegen wir den hin? Wenn wir sehen, ein anderer tut etwas, wenn wir sehen,
die jüdische Gemeinde hat die Städtepartnerschaft mit Czernowitz vorangetrieben oder
vorausgedacht, dann ist es vielleicht auch im Interesse des gesamten Gemeinwesens - ich spreche
hier von Düsseldorf, aber ein bisschen stellvertretend für andere Gemeinwesen und Gemeinschaften
- zu überlegen, wie man so ein Gebilde mit Leben erwecken könnte.
Herbert Rubinstein: Es ist generell die Frage, wie füllt man Städtepartnerschaft aus. Dass diejenigen,
die sich dafür engagieren, in den unterschiedlichsten Städten auch miteinander vieles umsetzen, und
und und. Es kommt auf die Engagierten an. Es wird sich ja vielleicht noch weiterentwickeln und es
wird noch viel kommen. Und wenn es auch bekannt gemacht wird, dass Menschen sehen: 'Ok, diese
Städtepartnerschaft ist nicht nur ein Stück Papier, sondern es ist ein Austausch mit Menschen mit
allem möglichen, was dazugehört', dass vielleicht da eine Welle loslegt und andere sich auch
anfangen zu betätigen. Natürlich haben wir, wenn ich Düsseldorf nehme, mehrere
Städtepartnerschaften. Das heißt, gibt es die Möglichkeit, auch mit den anderen Städten dieses
Ganze auf irgendeine Art und Weise zu beflügeln? Aber es bewegt sich. Wir haben hier im Jungen
Schauspielhaus 44 Jugendliche gehabt, davon waren 22 aus Warschau und 22 aus Czernowitz, und
die haben 5 Tage lang Workshops gemacht und sich ausgetauscht und der Stefan Fischer-Fels, der
das Junge Theater leitet, war begeistert, was da für ein Input gewesen ist. Und dann komme ich zu
dem Buch 'Blinde Kuh mit dem Tod'. Eine Graphic Novel. Wir haben es einmal vor 3 Jahren in
Ukrainisch herausgebracht, in Czernowitz. Es sind Bewegungen, Geschichten, die einfach
nachvollzogen werden können.

RAG: Ich möchte mich ausdrücklich bedanken und noch einmal sagen, dass die Vorstellung Ihres
Hörbuchs 'Meine vier Leben' mir ein Anliegen war, weil man, wenn man Sie nicht kennt, meinen
könnte, hier spricht jemand von sich selbst. Darum geht es zwar, aber er musste auch ein klein
bisschen dazu gebracht werden. Und das ist auch eine Kunst, das haben wir, sie haben es eingangs
gesagt, Jan Rohlfing und den Sprechern und Koproduzenten dieses Hörbuchs zu verdanken. Ich
möchte Ihnen sehr danken für Ihre Offenheit und Ihre Botschaft, von der ich denke, dass sie wichtig
ist und ernst genommen werden sollte - gerade auch von Menschen, die diese Zeiten nicht erlebt
haben, die sich nicht vorstellen können, wie man in einer Stadt aufwachsen kann, die zwei
Weltkriege erlebt, die drei/vier verschiedene Regimes überlebt hat, und wie man selber als Mensch
durch diese verschiedensten Schicksale hindurch kommt und dabei so viel mitnehmen kann an
innerem Reichtum, an Erinnerungen und an dem, was man an andere weitergeben kann. Man sieht,
wie lebendig die Projekte sind, die Sie mit gestalten. Und vielleicht stecken Sie ja schon im fünften
Leben.
Herbert Rubinstein: Vielleicht - Katzen haben 7 Leben.
RAG: Ich freue mich darauf, dass wir noch vieles von Ihnen mitbekommen werden und bin dankbar
dafür, dass wir als Düsseldorfer Sie bei uns haben.
Herbert Rubinstein: Und ich richte einen Appell an Sie: Bleiben Sie Gesprächspartner!
Das Interview mit Herbert Rubinstein führte Gregor Kuntze-Kaufhold. Der Text ist gekürzt. Das
ungekürzte Interview senden wir Ihnen gerne auf Anfrage.


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